Heute macht ein kurzer Artikel in der Wirtschaftswoche auf einen oft vernachlässigten Aspekt bei der Entwicklung neuer Produkte aufmerksam: Zu viel Perfektion ist manchmal eher schädlich, als nützlich (siehe → Das Streben nach Perfektion ist schädlich).
Meiner Erfahrung nach gilt dieser Lehrsatz universell, und tritt nicht nur im Großen auf. Mit geht es heute um einige praktische Hinweise, wie Sie bei sich vorgehen können, um das Problem zu umschiffen.
Die Quintessenz des erwähnten Artikels läßt sich schnell zusammenfassen: Große Unternehmen verschwenden oft viel Geld damit, daß sie Produkte entwickeln, die sie später nicht auf den Markt bringen. Oder sie vergeuden Mittel dadurch, daß sie sogar Vorhaben am Leben erhalten, bei denen ersichtlich ist, daß sie nicht erfolgreich sein werden:
„Jahr für Jahr verschwenden Unternehmen Milliarden von Dollar für die Entwicklung von Produkten, die am Ende in der Schublade verschwinden. Bei den meisten großen Herstellern von Konsumgütern kommt nur etwa eines von drei Projekten auf den Markt. Dabei kostet die Entwicklung eines Produkts regelmäßig fünf bis zehn Millionen Dollar. Zudem erhalten die Firmen auch Vorhaben am Leben, die kein Marktpotenzial besitzen.“
Der Autor schlägt als Lösung vor, daß Unternehmen verstärkt „Markttests“ durchführen sollen, ruhig auch mit Produkten, die noch nicht fertig entwickelt sind:
„Immer mehr Unternehmen nutzen das sogenannte Transactional Testing, den Markttest durch Probeverkäufe. Dahinter steckt der Gedanke, Pilotprodukte anzubieten, ohne umfangreiche Ressourcen für die endgültige Entwicklung aufzuwenden.
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Viele Startup-Unternehmer improvisieren Produkte, die der endgültigen Version ähneln und verkauft werden können. Perfektion ist nicht gefragt.“
Meiner Erfahrung nach hat der Autor recht, und auch wieder nicht. Außerdem gilt das geschilderte Problem im Großen (neue Produkte), sowie im Kleinen (wie perfekt soll ein Entwurf sein, bevor man ihn mit Kunden bespricht?).
Um neue Produkte zu entwickeln, sind Informationen notwendig, die man mit Projektbeginn nicht zwangsläufig hat. So müßte man eigentlich wissen, was die Kunden wollen. Gerade, wenn es um besonders innovative Produkte geht, gibt es diese Information oft aber nicht, weil die Kunden sie selbst nicht haben. Hätte zum Beispiel Carl Benz damals seine potentiellen Kunden befragt, was diese brauchen, hätte man ihm sicher geantwortet, daß man schnellere Pferde wolle. Er wäre vielleicht nie auf die Idee gekommen, ein Auto zu entwickeln.
Dieses Beispiel zeigt, daß man eigentlich immer das Wagnis eingeht, Produkte zu entwickeln, die niemand will. Mit sind eigentlich nur zwei Ansätze bekannt, die es gestatten, mit diesem Problem umzugehen:
Im ersten Fall ist man in der komfortablen Situation, die Kundenprobleme soweit durchdrungen zu haben, daß man sich nur noch auf die passende Entwicklung konzentrieren muss. Um zu diesem Punkt zu gelangen ist sowohl permanenter Kundenkontakt unabdingbar, als auch manchmal Produktentwickler, die eine langfristige Vision besitzen. Beispiele für solche Produkte sind der iPod der Firma Apple, aber eben auch das Automobil. Beide Produkte sind deshalb entstanden, weil visionäre Entwickler Kundenwünsche vorweggenommen haben. Sie konnten die Kundenwünsche deshalb vorwegnehmen, weil sie genau gewußt haben, welches Produkt fehlt, und was technisch machbar ist. Sie hatten also eine Vision über die Zukunft.
Im zweiten Fall sorgt man dafür, daß man in jeder Produktentwicklungsphase auf Informationen von Nutzern zurückgreifen kann, um, so entsprechend früh verstehen zu können, welche Art von Produkten wirklich verlangt ist. Von dem Ansatz, halbfertige Produkte probeweise zu verkaufen halte ich dabei aber nicht viel (zumindest bei High Tech Produkten). Vielmehr denke ich, daß der Gestaltung des Produktentwicklungsprozesses hierbei eine besondere Bedeutung zukommt. Man muss also dafür sorgen, daß man die erforderlichen Iterationen vor der eigentlichen Lieferung unbeschadet durchlaufen kann.
Bei High-Tech Produkten kommt es neben der Geschwindigkeit zunehmend auch auf das Design an. Design und Qualität hängen eng zusammen, und es benötigt Zeit und Sorgfalt, schöne und qualitativ hochwertige Produkte zu entwickeln, die man auch als solches erkennen kann. Hinzu kommt, daß der Einsatz des Produktes für die Kunden nicht kostenlos ist (um z.B. eine Software einzusetzen, benötigt man zunächst einen Computer). Auf der anderen Seite kommt es auch sehr darauf an, daß man auf loyale Kunden zurückgreifen kann. Aus allen diesen Gründen verbietet es sich in diesem Sektor, halbfertige Produkte anzubieten.
Eine häufig verwendete Alternative ist in diesem Sektor eher erfolgversprechend: Beta-Releases, die kostenfrei angeboten werden. Ein Beispiel für ein solches Produkt ist die Photoshop Lightroom Software der Firma Adobe. Diese Software wurde in einem offenen Ansatz entwickelt. So konnten sich zum Beispiel Interessenten die frühen Beta Versionen installieren, um Adobe Feedback zu geben. Diese Versionen waren bereits so weit ausgereift, daß sie für den praktischen Einsatz verwendbar waren. Zudem waren sie kostenlos. Selbst, wenn sie nicht gefallen hätten, hätten sie so keinen Schaden verursacht.
Eine weitere Alternative (obwohl sie als Methode zweischneidig ist) verwendet die Technik der frühen Produktankündigung. So kündet beispielsweise die Firma Apple ihre (fertig entwickelten) Produkte Wochen vor der ersten Lieferung an, und kann u.a. so in Erfahrung bringen, wie der Markt das neue Produkt aufnehmen wird. Noch extremer hat es die Firma Fuji gemacht, die anläßlich der Photokina 2010 eine leistungsfähige Kamera angekündigt, und gezeigt hat (Fuji x100). Die Lieferung der fertig ausgearbeiteten Kamera beginnt erst langsam ab April. In der Zwischenzeit hatte die Fachwelt ausreichend Zeit, Feedback zum ursprünglichen Konzept zu geben.
Wir haben oben gesehen, daß es im High Tech Sektor unabdingbar ist, daß man ausgereifte Produkte liefert, z.B. um nicht die Loyalität der Kunden zu verlieren. Dies bedeutet jedoch nicht, daß jeder Schritt im Produktentwicklungsprozess zu perfekt sein sollte, bzw Perfektion anstreben sollte. Im Gegenteil, manchmal ist dort ein zu weit ausgereifter Prototyp eher störend, zum Beispiel, weil sich niemand mehr traut, ihn zu ändern, oder, weil es zu lange dauert, ihn zu entwerfen und auszuarbeiten.
Der Design Thinking Ansatz geht hierbei sogar in eine extreme Richtung. Nachdem man in den ersten Entwicklungsphasen die Kundenbedarfe genauer verstehen will, konzentriert man sich im zweiten Teil auf die Entwicklung von Prototypen, die man dann zusammen mit Kunden solange diskutiert und ändert, bis sie passen. Stellt man hierbei fest, daß die Kundenbedarfe eigentlich ganz anders gelagert sind, als gedacht, scheut man sich auch nicht, die ersten Projektergebnisse zu invalidieren.
Um möglichst früh mit Kunden zusammenzuarbeiten verwendet man Papermockups, oder kleine Zeichnungen, d.h. versucht garnicht erst, eine fertige Anwendung auszuarbeiten. Auch legt man bewußt Wert darauf, daß man ältere Arbeitsergebnisse ändern kann. Man konzentriert sich deshalb nicht auf die Perfektion innerhalb des Entwicklungsprozesses, sondern, man strebt die Perfektion der Ergebnisse an.
In meinen älteren Artikeln finden Sie weiterführende Informationen zum heutigen Thema:
Das Original dieses Artikels ist auf →Der Produktmanager erschienen (©Andreas Rudolph). Regelmäßige Artikel gibt es über die (→Mailingliste), oder indem Sie →mir auf Twitter folgen. In der Online Version finden Sie hier die versprochenen weiterführenden Links: